Bericht: Seminar mit Si Gung Claudio Fabbricatore
Da ich bereits am Vorabend in Bremen ankomme, habe ich noch ein paar Stunden in der Bulaimei Kampfkunstschule von Sifu Holger Meyer für mich. An den Wänden der Trainingshalle hängen Kung-Fu-Banner und Urkunden, sowie Bilder der Stilbegründer, Großmeister und Meister. Der Boden besteht aus Holz, ebenso die massiven Balken, an denen Schlagpolster angebracht sind. Waffenständer und Regale sind gefüllt mit allen erdenklichen Waffenarten des traditionellen Kung-Fu. Die obere Etage hat gepolsterten Boden, große Sandsäcke und jede Menge Trainingsgerät. Ein wundervoller Ort zum Trainieren.
Ich nutze die Zeit, um einige Formen zu üben. Mithilfe dieser festgelegten Bewegungsabläufe werden Techniken und Prinzipien bereits seit Jahrhunderten innerhalb des Stils weitergegeben. Stetiges Üben ist unerlässlich.
Am nächsten Tag geht es früh los. Si Gung Claudio war eigentlich zum Urlaub in Deutschland, hat sich aber kurzfristig bereit erklärt, ein Seminar zur Form Shi Ba Sou (Die 18 Siegel) für uns zu leiten. In der Kung-Fu Familie bedeutet „Si Gung“ Großvater, der Lehrer meines Lehrers also. Ich begegne Claudio mit höflichem Respekt, deute eine kurze Verbeugung an – Kung-Fu Etikette. Si Gung Claudio ist erfrischend unförmlich und sehr herzlich. Er begrüßt jeden Schüler persönlich und merkt sich jeden Namen.
Bevor es an Gong Fu, die harte Arbeit, geht, erläutert uns Si Gung etwas Theorie. Jede Form dient dazu, nicht nur einzelne Techniken, sondern auch ein bestimmtes Kampfprinzip zu vermitteln. Die 18 Siegel beinhaltet verschiedenste Arten, den Gegner zu „versiegeln“, Ihn also in der Bewegung einzuschränken, zu behindern, zu Boden zu bringen und zu überwinden. Es folgt eine kurze Präsentation dazu, was den Mantis-Kampfstil ausmacht. „Die Gottesanbeterin hat einen leichten Kontrollzwang“, scherzt Claudio. Wir wollen nicht reagieren, sondern agieren, die Initiative ergreifen und den Kampf bestimmen. „Mantis nimmt sich den Raum und gibt ihn nicht wieder her!“ – ein aggressiver und offensiver Stil also.
Teile der Form habe ich vor zehn Jahren bereits einmal gelernt, ich bin gespannt, inwieweit mir das im Seminar hilft.
Zunächst werden die einzelnen Techniken vorgestellt und geübt, erst als Bahn, dann als Partnerübung. Stück für Stück setzt sich die Form zusammen. Neben den schweißtreibenden Übungen ist auch der Kopf gefragt. Die gezeigten Bewegungsabläufe zu behalten, ist nicht leicht, und alle Schüler sind hochkonzentriert. Als eine Technik gezeigt wird, die ich bereits kenne, „Tou Bu Zhang Chui“, entspanne ich mich etwas. Den Bewegungsablauf trainiere ich seit Jahren und bin mir meiner Sache sicher. In der Technik wird der Gegner während einer Reißbewegung mit der flachen Hand kontrolliert. Si Gung Claudio schaut sich meine Bewegung an und korrigiert mein Handgelenk um ein paar Zentimeter. Er erklärt, das nur in dieser Stellung die Muskeln des Arms optimal arbeiten und die Kraft der Rückenmuskeln sich sonst nicht in den Arm übertragen lässt. Ich hatte fast vergessen, dass er von Beruf Sportmediziner ist.
Es folgt eine Demonstration mit allen Schülern, bei der ich versuchen soll, mich mit der Technik dem Schieben meines Partners zu widersetzen. Mit der alten Handstellung leiste ich dem Druck kurz Widerstand, dann wird mein Arm an meine Brust gedrückt. In der neuen Position ist es mir problemlos möglich, den Arm gestreckt zu halten. Meine Füße rutschen auf dem Hallenboden nach hinten, aber mein Partner hat keine Chance, an mich heran zu kommen. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Ein Wort deines Meisters spart Dir drei Jahre Training“ – glaube ich aufs Wort.
Im Laufe des Seminars streut Si Gung Claudio immer wieder solche Juwelen ein. Er referiert über Aufbau und Funktionsweise des Kniegelenks und erläutert, wie man Tritte so ausführt, dass die Gelenke nicht verschleißen. Er erzählt, was das englische Boxen des 19. Jahrhunderts mit chinesischem Kung-Fu gemein hat, und während wir die Form üben, ermahnt er mich immer wieder, an die korrekte Handposition zu denken. Gar nicht so leicht.
Im zweiten Teil des Seminars widmen wir uns ganz der Anwendung der Techniken am Partner. Jetzt bekommt man langsam ein Gefühl für die Form und nach drei weiteren Stunden Training sind wir alle etwas zerschunden und sehr müde. Am Ende des Seminars schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich bin begeistert von den neuen Techniken und dem erworbenen Wissen, aber auch etwas eingeschüchtert von der Länge des Weges, der noch vor mir liegt. Na ja, auch der längste Weg beginnt mit einem ersten Schritt, soll Konfuzius gesagt haben. Wenn ich mir diese Handhaltung in Tou Bu Zhang Chui angewöhnt habe, bin ich schon einen Schritt weiter.
Kolja Bailly